Ein Artikel von Britta Schweighöfer, Internationale Delegierte von FIAN Deutschland
Die Idee, Schwerter könnten zu Pflugscharen werden, scheint sich umgekehrt zu haben. Stattdessen wird die Bombardierung landwirtschaftlicher Flächen und Produktionsmittel immer häufiger festgestellt. Hunger wird damit letztlich zur Waffe. Dieses Verbrechen wurde bereits in den Genfer Konventionen, die den Krieg wenigstens zügeln sollten, verboten. Dennoch spielt es in aktuellen Kriegen eine zerstörerische Rolle. Ein Blick auf den Handwerkskasten der menschenrechtlichen Justiziabilität in der Ukraine.
Helfer der ukrainischen Staatsanwaltschaft
Bereits im Mai 2022 wurde in der Ukraine die sogenannte Atrocity Crimes Advisory (ACA)-Gruppe eingerichtet, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren und eine Verfolgung zu ermöglichen. Die Gruppe besteht aus internationalen und ukrainischen Staatsanwält*innen und Ermittler*innen. Später kam das Starvation Mobile Justice Team hinzu, das den Einsatz von Hunger als Waffe und die Zerstörung lebensnotwendiger Güter durch russische Streitkräfte dokumentiert.
Dabei bezieht sich der Begriff „Hunger” nicht ausschließlich auf das Vorenthalten von Lebensmitteln und Wasser. Gemeint ist auch das Vorenthalten oder die Zerstörung anderer Güter, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unverzichtbar sind. Dazu zählen landwirtschaftliche Flächen und Bewässerungssysteme, aber auch Energieträger zum Kochen.

Um das Kriegsverbrechen justiziabel zu dokumentieren, müssen verschiedene Elemente nachgewiesen werden: So muss festgestellt werden, dass ein ziviles und kein militärisches Objekt angegriffen wurde.
Das mag im Fall eines Getreidespeichers einfach klingen, wird jedoch kompliziert, wenn der Speicher in einem auch militärisch genutzten Hafen liegt oder zur Versorgung von Truppen genutzt werden könnte.
Weiterhin muss vorsätzlich gehandelt werden, was eine weitere Herausforderung bei der Dokumentation darstellt (1). Vor diesem Hintergrund begann in der Ukraine eine akribische Datensammlung zur Kontrolle von Getreidevorräten, Transportwegen und der Zerstörung von Landwirtschaft und landwirtschaftlicher Infrastruktur.
Provinzen Luhansk und Saporischja: Systematische Aneignung von Getreide
Der Bericht Agriculture Weaponised trägt Belege zusammen, die eine systematische Aneignung von Getreide und dessen Abtransport aus den Provinzen Luhansk und Saporischja ab März 2022 zeigen, also noch vor dem internationalen Getreideabkommen Black Sea Grain Initiative. Nach der Eroberung des Gebiets beschlagnahmten russische Streitkräfte Getreideanlagen ukrainischer Unternehmen und privater Landwirte. Anschließend übernahmen sie und verbündete Akteure die Kontrolle über die umliegenden Transportnetze wie Schiene, Straße und See.
So wurde beispielsweise im Juni 2022 in einem Telegram-Kanal ein Video veröffentlicht, das den Chef der „Volksrepublik Luhansk“ bei der Abfahrt eines Zuges aus einem großen Getreidesilo (Starobilsky Elevator) zeigt. Das Video zeigt Zollbeamte, die Waggons kennzeichnen. Es ist mit der Aussage untertitelt, dass der Zug 13 Waggons mit Getreide mit einem Gewicht von 650 Tonnen nach Rostow am Don (Russland) transportiert. Dieser frei verfügbare Film ist eines von Hunderten Puzzleteilen, die auf eine systematische und großflächige Kontrolle von Getreidesilos, Straßen- und Schieneninfrastruktur sowie die Nutzung von Hafenanlagen in besetzten Gebieten hinweisen.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Beschlagnahmung des Getreides und dessen Export dazu dienten, Russlands Kriegsanstrengungen zumindest teilweise zu finanzieren. Dabei wurden der Zivilbevölkerung – in diesem Fall den betroffenen Zivilisten in Drittstaaten, für die das Getreide bestimmt war – gezielt Nahrungsmittel vorenthalten.
Statut des internationalen Strafgerichtshofs
Kriegsverbrechen: Artikel 8(2)(b)(xxv) verbietet „das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung durch das Vorenthalten lebensnotwendiger Gegenstände, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen, wie sie nach den Genfer Abkommen vorgesehen sind“. Das Verbot des Hungers als Kriegsmittel findet sich auch im humanitären Völkergewohnheitsrecht. Dort werden die überlebenswichtigen Güter konkretisiert, beispielsweise Lebensmittel, landwirtschaftliche Flächen, Ernten, Vieh und Bewässerungsanlagen. Auch in der Russischen Föderation sind diese Grundsätze in Vorschriften zur Anwendung des humanitären Völkerrechts durch die Streitkräfte in nationales Recht eingegangen.
Hier erhalten Sie einen guten Überblick über Normensetzung, Praxis und Quellen bietet das Internationale Komitee des Roten Kreuzes.
Zerstörung der Landwirtschaft in der Provinz Odessa
Im Rahmen des internationalen Getreideabkommens wurden seit Juli 2022 mehr als 30 Millionen Tonnen ukrainisches Getreide und andere Lebensmittel in alle Welt verschifft – auch in Regionen mit sehr hoher Ernährungsunsicherheit wie das Horn von Afrika, die Sahelzone, der Jemen und Afghanistan (obgleich China, Spanien und die Türkei die größten Empfängerländer waren).
Im Juli 2023 lief das Abkommen aus, da Russland eine Verlängerung abgelehnt hatte. Kurz darauf nahm der Beschuss durch Russland massiv zu. Ukrainische Häfen werden gezielt angegriffen, darunter Getreideterminals und Hafeninfrastrukturen. Zwei der drei im Getreideabkommen genutzten Häfen wurden getroffen und insgesamt rund 60.000 Tonnen Getreide zerstört.


Der Bericht Harvesting Conflict dokumentiert dieses Geschehen in der Provinz Odessa. Folgt man der Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine, so ist dieser Bericht mehr als nur eine Aufzeichnung der Zerstörung. Er zeigt eine Kriegsstrategie, die darauf abzielt, die Landwirtschaft und die Exportkapazitäten der Ukraine zu zerstören und damit auch einen Teil ihrer Identität. Vor der groß angelegten Invasion Russlands war die Ukraine eine globale Agrarmacht und exportierte rund 12 Prozent des weltweiten Weizens.
Langfristige Folgen für das Recht auf Nahrung
Für die Dokumentation wurden auch russische Regierungs- und Propagandaerklärungen gesichtet, um nachzuweisen, dass die Angriffe absichtsvoll erfolgten. Das folgende Zitat mag hierfür exemplarisch stehen: „Der Krieg um sie [die Schwarzmeerhäfen] wird […] ohne Gnade geführt werden. Für die westliche Koalition sind Odessa, Nikolajev und Izmail eine Art Stalingrad. Ohne die Schwarzmeerhäfen existiert die Ukraine schlichtweg nicht“ (2).
Die Angriffe sind somit Teil einer systematischen Strategie zur Zerstörung des Agrarsektors der Ukraine. Betroffen sind nicht nur die Häfen, sondern auch die Energie-, Wasser- und Umweltsysteme. Das hat weitreichende humanitäre, ökologische und globale Folgen für die Ernährungssicherheit. Durch die Angriffe auf die Energieversorgung ist es unmöglich geworden, wichtige Nahrungsmittel angemessen zu lagern, sodass diese verderben. Angriffe auf die Wasserinfrastruktur und Umspannwerke verhindern die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen. Angriffe auf Dämme in der gesamten Ukraine führen zu Überschwemmungen fruchtbarer Agrarflächen und zu massiven Umweltschäden.
Bis wieder etwas wächst, müssen viele Schwerter zu Pflugscharen werden.
Der Werkzeugkasten der Datensammlung
OSINT-Analyse, also die Analyse von „Open Source Intelligence“ oder öffentlich zugänglichen Quellen. Dazu zählen Social Media-Einträge ebenso wie die Analyse von Satellitenbildern, z.B. zur Bewertung, ob es militärische Ziele oder Gebäude mit möglicher doppelter (zivil-militärischer) Nutzung im angegriffenen Gebiet gab;
Einschätzung von Satellitenbildern beschädigter Infrastruktur durch Waffen-, Munitions- und Sprengstoffspezialisten;
Datenabgleich von Mobilgeräten von über 2.600 russischen Militärstandorten und mehr als 300 Standorten, die als mögliche Abschussbasen identifiziert wurden;
Analyse Tausender Datensätze aus dem marinen tracking von Schiffen, um deren Standort zum Zeitpunkt der Angriffe auf Häfen zu rekonstruieren;
Analyse von russischen Regierungs- und Propagandaerklärungen dahingehend, ob die Absicht hinter den Angriffen ausdrücklich anerkannt wird.
(1) https://starvationaccountability.org/wp-content/uploads/2019/06/Legal-Paper-Starvation.pdf
(2) Harvesting Conflict, Seite 7, Übersetzung deepL

