Hunger: nur ein Problem im Globalen Süden? Nicht ganz: Auch in den „reichen“ Ländern leben laut der Welternährungsorganisation FAO 16,5 Millionen chronisch Unterernährte (Stand 2022). Das ist ein Anstieg von 1,5 Millionen Menschen seit 2015. Chronische Unterernährung ist in Deutschland zwar selten, aber auch hierzulande findet sich Ernährungsarmut.Ernährungsarmut kann zwei Dinge bedeuten: Zum einen materielle Ernährungsarmut, welche durch einen Mangel an Nahrung oder durch unzureichende finanzielle Mittel zur Beschaffung von Nahrungsmitteln gekennzeichnet ist. In den meisten Fällen handelt es sich jedoch um einen qualitativen Mangel: Erst die Möglichkeit, sich gesund zu ernähren, wird als Nahrungssicherheit bezeichnet. Zum anderen hat Ernährungsarmut einen sozialen Aspekt, welcher sich auf die beschränkten Möglichkeiten zur Teilnahme an den gemeinschaftlichen Aspekten der Ernährung bezieht. Besonders die Pandemie hat verdeutlicht, wie problematisch sich der Mangel an sozialen Kontakten und sozialer Integration auf unsere Gesundheit auswirken kann. Daher geht es bei dem Thema Ernährungsarmut meist um die Frage sozialer und kultureller Ausgrenzung. In den meisten Fällen geht einkommensbedingte materielle Ernährungsarmut mit sozialer Ernährungsarmut einher, wie auch in Deutschland (WBAE 2020, S. 99).

Die aktuelle Situation

Da Ernährungsarmut häufig nur mit einem direkten Mangel an Nahrungsmitteln assoziiert wird, wird in Deutschland dem Problem wenig Beachtung geschenkt, so dass nur wenige Daten vorliegen. „Schätzungen zufolge sind hierzulande [jedoch] drei Millionen Menschen von Ernährungsarmut betroffen. Das sind 3,5 Prozent der Bevölkerung“. Die Covid-Pandemie, steigende Energiekosten und die Inflation haben die Situation weiter verschärft. Allein von Februar 2022 bis Februar 2023 sind die Nahrungspreise um beeindruckende 21,8 Prozent gestiegen. Immer mehr Menschen in Deutschland sind nicht in der Lage, sich angemessen und in Würde zu ernähren, wie es das Menschenrecht auf Nahrung verlangt. Dies spiegelt sich auch in dem Zuwachs der Tafel-Kund*innen: Seit dem Angriff auf die Ukraine und den folgenden Preissteigerungen verzeichnen rund 60 Prozent der Tafeln einen Zuwachs ihrer Kund*innen um die Hälfte. Rund 30 Prozent der Tafeln haben sogar doppelt so viele Kund*innen. Ein Drittel der Tafeln musste einen Aufnahmestopp verhängen.

Besonders betroffene Gruppen

Zu den besonders betroffenen Gruppen gehören armutsgefährdete Haushalte mit geringem Nettoeinkommen, Alleinerziehende, Rentnerinnen und Rentner, Geflüchtete sowie Haushalte, die Bürgergeld beziehen. Insbesondere Kinder und Jugendliche in diesen Haushalten sind betroffen. Mit dem neuen Regelsatz aus dem Bürgergeld werden für alleinstehende erwachsene Personen ca. 174 Euro pro Monat für Nahrung berechnet. Das sind rund 5,60 € pro Tag (Stand: Januar 2023). Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung müssten mindestens 7,50 Euro berechnet werden (DGE Empfehlung, S.20). Wegen dieses Defizits kaufen bürgergeldbeziehende Haushalte häufig günstigere Lebensmittel für den gesamten Monat. Oft sind dies Produkte, die hoch verarbeitet und arm an essentiellen Nährstoffen sind. Diese sättigen zwar und erhalten viel Energie, aber meistens auch viel Fett und Zucker. Obst und Gemüse, Fisch oder mageres Fleisch sind eher teurer und daher kaum bezahlbar. Insbesondere Kinder leiden oft an einem Defizit von Mikronährstoffen, was ihre kognitive Entwicklung beeinträchtigen kann.

In einer viel beachteten Studie des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund von 2007 wurde nachgewiesen, dass die Sozialleistungen für Kinder aus einkommensarmen Familien für eine gesunde und ausgewogene Ernährung nicht ausreichen – selbst dann nicht, wenn die Eltern sorgfältig die Preise vergleichen. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert, sondern sie verschlimmert sich im Hinblick auf die Inflation dramatisch (DGE Empfehlung, S. 20).

Was tut Deutschland?

Die Bundesregierung scheint die Dringlichkeit des Themas lange Zeit nicht verstanden zu haben. Bereits 2020 hat der wissenschaftliche Beirat des Ernährungs- und Landwirtschaftsministeriums mit Nachdruck darauf verwiesen, dass Ernährungsarmut in Deutschland ein vielseitiges Problem sei und nennt als eine wichtige Ursache den zu geringen Regelsatz des Arbeitslosengeldes. Foodwatch kritisiert, dass die Bundesregierung trotz dieses wissenschaftlichen Ergebnisses das Gegenteil behauptet. Ungeachtet  weiterer Empfehlungen, wie die der DEG, ändert die Regierung an dieser prekären Lage nichts. Auch mit der geplanten Anhebung des Bürgergeldes ab 2024 wird der nötige Tagesbedarf von 7,50 Euro nicht erreicht. Ein gesunder Lebensmitteleinkauf bleibt weiterhin nicht möglich.

Im Hinblick darauf wird auch die aktuelle Entwicklung einer Ernährungsstrategie kritisch beobachtet. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir erklärt: „Ich möchte dafür sorgen, dass es für alle Menschen in Deutschland möglich ist, sich gut und gesund zu ernähren, unabhängig von Einkommen, Bildung oder Herkunft.“ Ein ambitioniertes Ziel. Sein Eckpunktepapier dafür wurde im Dezember 2022 vom Kabinett beschlossen. Ende 2023 soll die Ernährungsstrategie verabschiedet werden. Bis dahin bemüht sich das Ministerium um große Beteiligung der Zivilgesellschaft. FIAN hat an mehreren Workshops teilgenommen und Stellungnahmen einreichen können. Wir begrüßen, dass die Strategie relevante Themen wie Aufklärung zu gesunder Ernährung, Ernährungsumgebung und nachhaltige Nahrungsmittelbeschaffung einschließt.

FIAN

In einer Studie von 2012 hat FIAN eine Bestandsaufnahme der Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung in Deutschland erstellt. Es wird sehr deutlich, dass der Staat seinen Verpflichtungen nicht ausreichend nachkommt. Das Problem wird in Deutschland jedoch wenig thematisiert. Nur in der Wissenschaft, bei Wohlfahrtsverbänden und Betroffeneninitiativen wird Ernährungsarmut diskutiert. Die Ambitionen des Landwirtschaftsministers stellen daher eher eine Ausnahme dar.

Um sich für die Erfüllung des Rechts auf Nahrung in Deutschland stark zu machen, ist FIAN an verschiedenen Aktivitäten beteiligt:

  • FIAN hat 2013 aktiv die Aktivitäten des Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln begleitet, unter anderem durch eine Veranstaltung beim UN Menschenrechtsrat in Genf.
  • FIAN organisierte im Juni 2022 ein Webinar mit zwei Dialogen. Zum einen ging es um die steigenden Lebensmittelpreise und Ernährungspolitik, zum anderen um Armut und Ernährung.
  • Bei dem Policy Brief zu kostenlosem Schulessen für alle Kinder und Jugendliche wirkte FIAN mit.
  • Eine der aktuell diskutierten Maßnahmen ist ein Werbeverbot ungesunder Lebensmittel für Kinder. Bereits Ende Februar 2023 brachte Cem Özdemir diese wegweisende Maßnahme ein. Sie soll für Fernseh- und Radiosendungen sowie Online-Plattformen wie YouTube von 6 Uhr morgens bis 23 Uhr abends gelten. Der Landwirtschaftsminister möchte außerdem Werbung für ungesundes Junkfood in Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren verbieten, wenn sie offensichtlich an Kinder gerichtet ist. Zusätzlich soll keine Außenwerbung im Umkreis von 100m zu Schulen, Kindertageseinrichtungen, Spielplätzen oder anderen Kinderfreizeiteinrichtungen erlaubt sein. FDP-Politiker*innen kritisieren immer wieder, dass das geplante Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel zu weit gehe. Daher appellierten nun rund 60 Organisationen an die Partei, den Regelungen zuzustimmen – auch FIAN ist mit dabei.

FIAN fordert folgende Aspekte für den Weg Deutschlands aus der Ernährungsarmut und hin zu Ernährungssicherheit:

  • Die Erfüllung menschenrechtlicher Grundlagen
    • Das Recht auf gesunde Ernährung aus der UN-Kinderrechtskonvention
    • Anwendung der Leitlinien zu Ernährungssystemen des Welternährungsrates
  • kostenlose & lokale (kleinbäuerliche) Schulverpflegung >> mehr dazu
  • Förderung lokaler, solidarischer Landwirtschaftssysteme
  • Zuckermenge in Getränken einschränken
  • Aufklärung zu ungesunden Lebensmitteln
    • Warnhinweise
    • Werbeverbote
  • Die Anhebung des Regelsatzes für Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.

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